Abhandlung über die Amtsgewalt des Papstes und der Bischöfe
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[Über die Rechtsprechung]
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Wir sprachen von der Ordination, die allein, wie Hieronymus sagt, die Bischöfe von
den übrigen Ältesten unterschied. Deshalb müssen die anderen Aufgaben der Bischö-
fe nicht erörtert werden. Man braucht also nicht über die Konfirmation zu sprechen
und nicht über die Glockenweihe, die beinahe allein übriggeblieben ist. Über ihre
Befugnis zur Rechtsprechung muß man aber etwas sagen.
Es steht fest, daß jene allgemeine Rechtsprechungsbefugnis zur Exkommunikation
von Leuten, die offenkundiger Verbrechen schuldig sind, allen Pfarrern zukommt.
Doch die Bischöfe haben sie in tyrannischer Weise für sich allein in Anspruch ge-
nommen und zum Geldgewinn mißbraucht. Es steht nämlich fest, daß die soge-
nannten Offizial
sich unerträgliche Freiheiten herausgenommen haben und teils
aus Habgier, teils aus anderen Begierden die Menschen gequält und ohne ordentliches
Gerichtsverfahren exkommuniziert haben. Was ist das für eine Tyrannei, wenn die
Offiziale in den Städten die Macht haben, nach ihrem Gutdünken ohne ordentliches
Gerichtsverfahren die Menschen zu exkommunizieren! Und in welchen Ange-
legenheiten haben sie doch diese Amtsgewalt mißbraucht! Nämlich nicht zur Be-
strafung von wirklichen Verbrechen, sondern bei der Verletzung von Fasten- und
Feiertagen und ähnlichem Kram. Ehebrüche freilich bestraften sie zuweilen; aber
dabei quälten sie oft unschuldige und ehrbare Menschen. Denn da dies ein schweres
Verbrechen ist, darf gewiß niemand ohne ordentliches Gerichtsverfahren [494] ver-
urteilt werden. Da also die Bischöfe diese Rechtsprechungsbefugnis in tyrannischer
Weise für sich allein in Anspruch genommen und oft schimpflich mißbraucht haben,
muß man ihnen in solcher Rechtsprechung nicht gehorchen. Da es also gerechte
Gründe gibt, warum wir nicht gehorchen, ist es richtig, auch diese Rechtsprechungs-
befugnis den frommen Pfarrern zurückzugeben und dafür zu sorgen, daß sie recht-
mäßig ausgeübt wird zur Besserung der Sitten und zur Ehre Gottes.
Es bleibt noch die Rechtsprechung in solchen Sachen, die nach dem Kirchenrecht
dem sogenannten kirchlichen Gericht zustehen; das sind vor allem die Ehesachen.
Auch diese Zuständigkeit haben die Bischöfe nach menschlichem Recht, und dies
nicht nach sehr altem, wie aus dem Codex und den Novellen des Kaisers Justinia
hervorgeht, wonach die Ehegerichtsbarkeit damals bei den weltlichen Behörden lag.
Und wenn die Bischöfe nachlässig sind, müssen nach göttlichem Recht die weltlichen
Behörden diese Gerichtsbarkeit ausüben. Dies gesteht sogar das Kirchenrecht zu.
Deshalb muß man auch in dieser Rechtsprechung den Bischöfen nicht gehorchen.
Und zumal sie einige ungerechte Ehegesetze erlassen haben und in ihren Gerichten
anwenden, muß man auch aus diesem Grund andere Gerichte einsetzen, insbesondere
weil die Traditionen über die geistliche Verwandtschaft unrecht sind. Unrecht ist auch
die Tradition, die nach vollzogener Scheidung der unschuldigen Person eine zweite
Ehe verbietet. [495] Das Gesetz, das generell alle heimlichen und heimtückischen
Verlöbnisse gegen das Recht der Eltern für gültig erklärt, ist ebenfalls unrecht.
18 Verwaltungsbeamte der Bischöfe.
19 Römisches Rechtsbuch und Gesetzesänderungen des Kaisers Justinian (527–565).