Abhandlung über die Amtsgewalt des Papstes und der Bischöfe
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Schwert führe oder ein weltliches Reich innehabe, wie er selbst sagt: „Mein Reich ist
nicht von dieser Welt“ (Joh 18, 36). Und Paulus sagt: „Wir herrschen nicht über euren
Glauben“ (2. Kor 1, 24). Ferner: „Die Waffen unseres Kampfes sind nicht fleischlich“
(2. Kor 10, 4) usw. Wenn also Christus in seiner Passion mit Dornen gekrönt und in
einem roten Königsmantel zur Verspottung vorgeführt wird, so ist dies ein Symbol
dafür, daß unter Mißachtung des geistlichen Reiches, das heißt durch Unterdrückung
des Evangeliums, ein anderes, weltliches Reich unter dem Vorwand der kirchlichen
Gewalt aufgerichtet werden wird. Deshalb sind die Konstitution Bonifaz’ VIII
und
das Kapitel „Omnes“ in der 22. Distinktio
und ähnliche Sätze, die behaupten, der
Papst sei aus göttlichem Recht Herr der weltlichen Reiche, falsch und gottlos. Aus
dieser Meinung sind schreckliche Finsternisse in die Kirche eingedrungen und dann
auch große Unruhen in Europa entstanden. Es wurde nämlich der Dienst am
Evangelium vernachlässigt. Die Kenntnis des Glaubens und des geistlichen Reichs
ging verloren, die christliche Gerechtigkeit wurde für jenes äußerliche Reich
gehalten, das der Papst errichtet hatte. Sodann begannen die Päpste, Herrschaften an
sich zu reißen, [482] sie übertrugen Königreiche, quälten durch ungerechte
Bannflüche und Kriege die Könige fast aller Nationen in Europa, am meisten die
deutschen Kaiser, teils um die italienischen Städte in Besitz zu nehmen, teils um die
deutschen Bischöfe unter ihre Knechtschaft zu bringen und den Kaisern das
Besetzungsrecht zu entreißen. In der Clementin
steht sogar geschrieben: „Wenn es
gerade keinen Kaiser gibt, ist der Papst der rechtmäßige Nachfolger.“ So ist der Papst
nicht allein dem Auftrag Christi zuwider in den Kreis der Herrscher eingedrungen,
[483] sondern hat sich auch in tyrannischer Weise über alle Könige erhoben. Dabei ist
nicht allein das Faktum zu tadeln, sondern noch viel mehr zu verurteilen, daß er
hierfür die Autorität Christi in Anspruch nimmt, daß er die Schlüsselgewalt auf
weltliche Herrschaft überträgt, daß er das Heil an diese gottlosen und
gotteslästerlichen Meinungen bindet, wenn er sagt, es sei heilsnotwendig, daß die
Menschen glauben, dem Papst stehe diese Herrschaft aus göttlichem Recht zu. Weil
diese großen Irrtümer den Glauben und das Reich Christi verdunkeln, kann man in
keiner Weise darüber hinwegsehen. Denn das Ergebnis zeigt, daß sie für die Kirche
eine große Pest waren.
[3. Zur Forderung nach Gehorsam]
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Drittens ist noch folgendes hinzuzufügen: Selbst wenn der römische Bischof aus
göttlichem Recht den Vorrang und die Oberherrschaft hätte, so wäre man dennoch
denjenigen Päpsten, die gottlose Kulte, Abgötterei und eine dem Evangelium wider-
streitende Lehre verteidigen, keinen Gehorsam schuldig. Vielmehr muß man solche
10 Die päpstliche Bulle „Unam sanctam“ vom Jahre 1301.
11 Decretum Gratiani, Kirchenrechtssammlung des 12. Jahrhunderts.
12 Eine Abteilung des Corpus iuris canonici, Gesetzessammlung des Papstes Clemens V. (1305–1314).