Abhandlung über die Amtsgewalt des Papstes und der Bischöfe
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[491] Wenn also die zuständigen Bischöfe zu Feinden des Evangeliums werden und
die Ordination nicht erteilen wollen, so erhalten die Gemeinden ihr Recht dazu
zurück. Denn überall, wo eine Gemeinde ist, da ist das Recht, dem Evangelium Gel-
tung zu verschaffen. Deshalb muß die Gemeinde das Recht haben, Geistliche zu
berufen, auszuwählen und zu ordinieren.
Und dieses Recht ist eine Gabe, die der Kirche als solcher gegeben ist und die ihr
keine menschliche Autorität nehmen kann, wie auch Paulus im Epheserbrief (4, 8)
bezeugt, wenn er sagt: „Er fuhr gen Himmel und hat den Menschen Gaben gegeben.“
Und er zählt zu den der Gemeinde eigenen Gaben die Hirten und Lehrer und fügt
hinzu, daß solche zum Dienst und zur Erbauung des Leibes Christi gegeben werden
(Eph 4, 11 f.). Wo also die wahre Kirche ist, da muß auch das Recht sein, Geistliche
zu wählen und zu ordinieren. Wie im Notfall auch ein Laie die Absolution erteilen
kann und dadurch für den anderen zum Geistlichen und Pastor wird, worüber [der
Kirchenvater] Augustin die Geschichte von den zwei Christen im Schiff erzählt, von
denen der eine den Taufbewerber taufte und dieser nach seiner Taufe dem anderen die
Vergebung zusprach
Hierher gehören auch die Worte Christi, die bezeugen, daß die
Schlüssel der Gemeinde gegeben sind, nicht allein bestimmten Personen: „Wo immer
zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind“ (Mt 18, 20) usw.
Schließlich bekräftigt dies auch der Spruch des Petrus: „Ihr seid die königliche
Priesterschaft“ (1. Petr 2, 9), welche Worte sich auf die wahre Kirche beziehen. Da
nur sie das Priestertum hat, hat sie gewiß auch das Recht, Geistliche zu wählen und zu
ordinieren. Dies bezeugt auch die allgemein verbreitete Gewohnheit der Kirche. Denn
einst wählte das Volk die Pfarrer und Bischöfe. Dann trat ein Bischof hinzu, entweder
der aus derselben Gemeinde oder [492] ein benachbarter, der den Erwählten durch
Auflegung der Hände bestätigte. Die Ordination war nichts anderes als eine solche
Bestätigung. Später kamen neue Zeremonien hinzu, wie sie in großer Zahl [Pseudo-]
Dionysius beschreibt. Aber dies ist ein später und unter falschem Namen schreibender
Auto
, wer immer es ist, wie auch die Schriften des Clemens
unecht sind. Danach
fügten Jüngere hinzu: „Ich gebe dir die Gewalt zu opfern für die Lebenden und die
Toten.
Aber dies steht noch nicht bei Dionysius.
Aus all dem geht hervor, daß die Gemeinde das Recht besitzt, Geistliche zu wählen
und zu ordinieren. Wenn also die Bischöfe entweder Irrlehrer werden oder die Ordi-
nation nicht erteilen wollen, sind die Gemeinden aus göttlichem Recht gehalten,
durch ihre eigenen Pastoren andere Pastoren und Geistliche zu ordinieren. Ursache
des Schismas und der Zwietracht ist [493] die Gottlosigkeit und Tyrannei der Bischö-
fe, denn Paulus befiehlt, daß Bischöfe, die Gottloses lehren oder gottlose Lehre und
gottlose Kulte verteidigen, für verflucht gehalten werden sollen (Gal 1, 7–9).
14 Wiedergegeben im Decretum Gratiani nach einem Brief Augustins.
15 Dionysius Areopagita, anonymer Verfasser eines unter dem Namen des Paulusanhängers Dionysius (Apg 17, 34)
verbreiteten, neuplatonisch beeinflußten Schrifttums aus der Zeit um 500.
16 Bischof Clemens I. von Rom (ca. 90–99).
17 Aus einer auf das 10. Jahrhundert zurückgehenden Agende für die Priesterweihe.