Die Barmer Theologische Erklärung
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regiment sich vollziehenden Geschichte genau so wie andere Leute. Was wir aber
fürchten mehr als den Tod, ist die Tatsache, daß die Kreaturen Gottes und Ge-
schehnisse der Geschichte uns in Versuchung führen, wie sie im Lauf der Geschichte
alle Menschen in Versuchung geführt haben. Diese wurden zu Heiden, wenn sie der
Versuchung unterlagen, aus ihnen und in ihnen Gott
ohne Christus
zu suchen. Wo
immer das geschieht, ob unter heidnischen oder christlichen Bezeichnungen, voll-
zieht sich eigene Weisheit, eigene Gerechtigkeit, eigene Heiligung, eigene Erlösung.
Es gewinnen andere Herren als Jesus Christus, andere Gebote als seine Gebote über
uns Gewalt. Sie bieten sich uns an als Erlöser, aber sie erweisen sich als Folterknech-
te einer unerlösten Welt. Darum ermahnen wir alle Christen, sich mit äußerstem Fleiß
vor der Irrlehre zu hüten, als könne man Rechtfertigung und Heiligung auseinander-
reißen. Wir warnen alle vor dem Mißbrauch des göttlichen Angebotes, in welchem
man Zuspruch der Sündenvergebung will, aber Gottes Anspruch auf Grund der Sün-
denvergebung verweigert. Diese Erkenntnisse fassen wir so zusammen:
„Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir
nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir
nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.“
Nun ist uns sehr wohl bekannt, daß solche Erkenntnis und solcher Glaube nur der
christlichen Kirche gegeben ist und also auch nur von ihr und ihren Gliedern, vor
allem von ihren Dienern verlangt werden kann. Darum würden wir auch in einem
anderen Ton sprechen und sprechen müssen, wenn wir zu der Welt sprächen, die kei-
nen Wert darauf legt, Kirche zu sein. Wir sprechen aber zu
der
Welt, die den An-
spruch erhebt, Kirche zu sein, und
den
Christen, die sich dieser Welt verbündet ha-
ben. Um diese zu locken und zurückzurufen, müssen wir sie, in deutlicher Absetzung
zu ihnen, bekämpfen. Würden wir zu der Welt reden, die nicht Kirche sein will, so
würden wir sie damit, daß wir sie locken, bekämpfen.
3.
Aus diesem Grunde haben wir auch an die Brüder und Schwestern, die mit uns in der
Bekenntnisgemeinschaft zusammen sind, keine dringlichere Mahnung als diese, daß sie
recht Kirche seien und als Glieder der Kirche in Bewußtheit kämpfen. Wir finden, daß
diese biblische Mahnung ihren zusammenfassenden Ausdruck findet in Eph 4, 15.16:
„Lasset uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken an dem,
der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist.“
Wenn der Apostel so spricht, so redet er nicht von einer moralischen Rechtschaffen-
heit oder einer dem Blut entwachsenen Liebe. Täte er das, dann würde er von einer
menschlichen Gesellschaftsform, aber nicht von der Kirche reden. Denn die Kirche
wird nicht aus bürgerlicher Rechtschaffenheit und blutmäßiger Liebe, sondern sie