Die Bekenntnisschriften - page 268

Die Schmalkaldischen Artikel
315
erhoffen oder zu erwarten wissen. Aber wir sehen in den Bistümern überall viele
Pfarrämter frei und verlassen, daß einem das Herz brechen möchte. Und dennoch
fragen weder die Bischöfe noch die Domherren danach, wie die armen Leute leben
oder sterben, für die doch Christus gestorben ist. Sollen diese denselben nicht mit sich
reden hören wie den rechten Hirten mit seinen Schafen (Joh 10, 12)? Daher grauet
mir und ist mir bange, er könnte einmal ein Engelkonzil über Deutschland gehen
lassen, das uns alle wie Sodom und Gomorra ganz und gar verdirbt, weil wir seiner
mit dem Konzil so gottlos spotten.
Außer solchen nötigen Kirchensachen wären auch im weltlichen Stand unzählige,
große Stücke zu verbessern: Da ist die Uneinigkeit der Fürsten und Stände. Wucher
und Habgier sind wie eine Sintflut eingerissen und vollwertiges Recht geworden.
Willkür, Unzucht, Übermut in bezug auf Kleidung, Fressen und Spielen, Prunken mit
allerlei Untugenden und Bosheit, Ungehorsam der Untertanen, Gesinde und Arbeiter,
Übervorteilung durch alle Handwerker, auch durch die Bauern – und wer kann es
alles aufzählen? – haben so überhandgenommen, daß man es mit zehn Konzilien und
zwanzig Reichstagen nicht wieder zurechtbringen wird. Wenn man diese Hauptstücke
des geistlichen und des weltlichen Standes, die wider Gott sind, auf einem Konzil
behandelte, würde man wohl alle Hände voll zu tun bekommen. Darüber würde man
sicher der Kinderei und des Narrenwerks von langen Gewändern
8
, großen Platte
n
9
,
breiten Gürtel
n
10
, Bischofs- und Kardinalshüten oder -stäben und dergleichen Possen
vergessen. Wenn wir vorher im geistlichen und weltlichen Stand Gottes Gebot und
Befehl ausgeführt hätten, wollten wir genug Zeit finden, die Speisen, Kleidung,
Platten und Kase
l
11
zu reformieren.
Wenn wir aber solche Kamele verschlingen und dafür Mücken sieben (Mt 23, 24),
die Balken stehenlassen und die Splitter richten wollen (Mt 7, 3–5), so können wir
wohl auch mit dem Konzil zufrieden sein.
Darum habe ich wenige Artikel aufgestellt. Denn wir haben ohnehin von Gott so
viele Befehle in der Kirche, in der Obrigkeit und im Haus auszuführen, daß wir sie
nimmermehr ausrichten können. Was soll es denn oder wozu hilft es, daß man
darüber viele Dekrete und Gesetze auf einem Konzil macht, besonders wenn man die
von Gott gebotenen Hauptstücke nicht achtet noch hält? Gerade als müßte er unser
Gaukelspiel dafür ehren, daß wir seine ernsten Gebote mit Füßen treten. Aber unsere
Sünden drücken uns und lassen Gott nicht über uns gnädig sein. Denn wir tun keine
Buße und wollen außerdem noch alle Greuel verteidigen. Ach, lieber Herr Jesus
Christus, halte du selber Konzil und erlöse die Deinen durch deine herrliche
Wiederkunft! Es ist mit dem Papst und den Seinen verloren. Sie wollen dich nicht, so
hilf du uns Armen und Elenden, die wir zu dir seufzen und dich mit Ernst suchen,
nach der Gnade, die du uns durch deinen Heiligen Geist gegeben hast, der mit dir und
dem Vater lebt und regiert, ewig gelobt. Amen.
8 Die Alba, ein weißes, bis zu den Knöcheln reichendes liturgisches Untergewand.
9 Tonsur.
10 Ein reich verzierter Gürtel, um die Alba zu gürten.
11 Das glockenförmige liturgische Obergewand des Priesters, das oft kunstvoll gearbeitet war.
1...,258,259,260,261,262,263,264,265,266,267 269,270,271,272,273,274,275,276,277,278,...549
Powered by FlippingBook