Der Große Katechismus
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Dazu sind wir es ja auch schuldig vor der Welt, daß wir für die Wohltat und alles
Gute, das wir von den Eltern haben, dankbar sind. Aber da regiert abermals der Teu-
fel in der Welt, daß die Kinder ihre Eltern vergessen, wie wir alle Gott vergessen, und
niemand daran denkt, wie uns Gott nährt, hütet und schützt und uns soviel Gutes gibt
für Leib und Seele. Besonders wenn einmal eine böse Stunde kommt, da zürnen und
murren wir mit Ungeduld, und alles ist dahin, was wir unser Leben lang Gutes emp-
fangen haben. Genauso handeln wir auch an den Eltern, und es gibt kein Kind, das
solches erkennt und bedenkt, es sei denn, der Heilige Geist gebe es. Solche Unart der
Welt kennt Gott wohl. Deshalb erinnert und treibt er sie mit Geboten, damit ein jeder
darüber nachdenkt, was die Eltern an ihm getan haben. Dann findet er, daß er Leib
und Leben von ihnen hat, außerdem von ihnen ernährt und aufgezogen worden ist und
sonst hundertmal in seinem Unrat erstickt wäre. Darum ist es richtig und von alten
weisen Leuten gut gesagt: „Deo, parentibus et magistris non potest satis gratiae
rependi“, das heißt: „Gott, den Eltern und Schulmeistern kann man nie genug danken
oder es ihnen vergelten.“ Wer sich das anschaut und darüber nachdenkt, der wird
wohl ungezwungen seinen Eltern alle Ehre geben und sie auf den Händen tragen als
die, durch die ihm Gott alles Gute getan hat.
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Darüber hinaus sollte auch das ein großer Beweggrund sein, uns um so mehr
anzureizen, daß Gott an dieses Gebot eine liebliche Verheißung geheftet hat und
spricht: „Auf daß du langes Leben habest in dem Lande, das du bewohnst“
(2. Mose 20, 12). Da sieh nun selbst, welch großer Ernst für Gott über diesem Gebot
ist, weil er nicht allein ausdrückt, daß es ihm angenehm sei, er Freude und Lust daran
habe, sondern es soll auch uns gut geraten und zum Besten dienen, so daß wir ein
sanftes, süßes Leben haben möchten mit allem Guten. Darum streicht auch Sankt
Paulus, Epheser 6 (v. 2 f.), solches stark heraus und rühmt es, wenn er spricht: „Das
ist das erste Gebot, das eine Verheißung hat, ‚auf daß dir’s wohlgehe und du lange
lebest auf Erden‘.“ Denn obwohl die anderen Gebote auch in sich eine Verheißung
eingeschlossen haben, ist es doch zu keinem so deutlich und ausdrücklich hinzugesetzt.
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Da hast du nun die Frucht und den Lohn, daß, wer sich daran hält, gute Tage, Glück
und Wohlfahrt haben soll, andererseits auch die Strafe, daß der, der ungehorsam ist,
desto eher umkommen und des Lebens nicht froh werden soll. Denn mit „langes Le-
ben haben“ meint die Schrift nicht allein alt werden, sondern alles haben, was zu lan-
gem Leben gehört, wie zum Beispiel Gesundheit, Frau und Kind, Nahrung, Friede,
gute Herrschaft usw., ohne das dieses Leben nicht fröhlich genossen werden noch auf
Dauer bestehen kann. Willst du nun nicht Vater und Mutter gehorchen und dich von
ihnen erziehen lassen, so gehorche dem Henker, gehorchst du dem nicht, so gehorche
dem „Streckbein
, das ist der Tod. Denn das will Gott, kurz gesagt, haben: Entwe-
der wird er, wenn du ihm gehorchst, Liebe und Dienst tust, es dir überschwenglich
vergelten mit allem Guten, oder er wird, wenn du ihn erzürnst, über dich Tod und
Henker schicken. Wo kommen soviel Bösewichte her, die man täglich hängen, köp-
fen und rädern muß, wenn nicht aus dem Ungehorsam, weil sie sich nicht mit Güte
57 Eine hauptsächlich niederdeutsche Bezeichnung für den Tod.