Der Große Katechismus
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Haß Böses gönnen, so daß Leib und Seele an jedermann unschuldig sind, besonders
aber an dem, der dir Böses wünscht oder zufügt. Denn dem, der dir Gutes gönnt und
tut, Böses anzutun, ist nicht menschlich, sondern teuflisch.
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Andererseits übertritt nicht nur der dieses Gebot, der Böses tut, sondern auch der, der
dem Nächsten Gutes tun könnte, Böses verhindern, es abwehren, ihn schützen und
retten könnte, damit ihm weder Leid noch Schaden am Leibe geschieht, und es nicht
tut. Wenn du nun einen Nackten weggehen läßt und ihn bekleiden könntest, so hast
du ihn erfrieren lassen. Siehst du jemand Hunger leiden und gibst ihm nichts zu es-
sen, so hast du ihn verhungern lassen. Ebenso ist es, wenn du jemand zum Tod verur-
teilt oder in gleicher Not siehst und nicht rettest, wenn du Mittel und Wege dazu
weißt, so hast du ihn getötet. Und es wird dir nicht helfen, daß du einwendest, du
hättest weder durch Rat noch Tat zum Tode geholfen. Denn du hast ihm die Liebe
entzogen und der guten Tat beraubt, wodurch er am Leben geblieben wäre.
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Darum nennt auch Gott zu Recht alle „Mörder“, die in Nöten und Gefahr für Leib und
Leben weder raten noch helfen. Und er wird ein schreckliches Urteil über sie fällen
am Jüngsten Tag, wie es Christus selbst verkündigt hat (Mt 25, 42 f.), und sprechen:
„Ich bin hungrig und durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen und zu trinken
gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt. Ich bin
nackt gewesen, und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und gefangen gewe-
sen, und ihr habt mich nicht besucht.“ Das heißt, ihr habt mich und die Meinen an
Hunger, Durst und Frost sterben, von wilden Tieren zerreißen, im Gefängnis ver-
faulen und in Nöten verderben lassen. Was heißt das anderes, denn als Mörder und
Bluthund gescholten zu werden? Denn wenn du auch solches nicht in der Tat began-
gen hast, so hast du ihn doch im Unglück stecken und umkommen lassen, was dich
betrifft. Und das ist genau so, als ob ich jemand auf tiefem Wasser fahren und sich ab-
mühen sehen würde oder ich würde sehen, wie jemand in ein Feuer gefallen wäre und
könnte ihm die Hand reichen, ihn herausreißen und retten und würde es doch nicht tun.
Wie würde ich denn anders vor der Welt dastehen denn als Mörder und Bösewicht?
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Darum ist die eigentliche Meinung Gottes, daß wir keinem Menschen Leid widerfahren
lassen sollen, sondern ihm alles Gute und alle Liebe beweisen. Und das ist (wie gesagt)
besonders auf die bezogen, die unsere Feinde sind. Denn daß wir Freunden Gutes tun,
ist noch eine gewöhnliche heidnische Tugend, wie Christus Matthäus 5 (v. 46 f.) sagt.
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Da haben wir nun abermals Gottes Wort, womit er uns anreizen und treiben will zu
rechten, edlen, hohen Werken wie Sanftmut, Geduld und alles in allem zu Liebe und
Wohltat gegen unsere Feinde. Und er will uns immer erinnern, daß wir wieder an das
erste Gebot denken, daß er unser Gott ist. Das heißt, daß er uns helfen, beistehen und
schützen will, um die Lust, uns zu rächen, zu unterdrücken. Solches sollte man nun
sehr gründlich einprägen, dann hätten wir mit guten Werken alle Hände voll zu tun.
Aber das wäre eben keine Predigt für die Mönche, denn dem geistlichen Stand wäre
damit zuviel Abbruch getan, der Heiligkeit der Kartäuser
zu nahe getreten, und es
64 S. o. Anm. 50 (S. 55).