Der Große Katechismus
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nen, die ausgenommen (wie gesagt), die an Gottes Stelle sitzen, das sind Eltern und
Obrigkeit. Denn Gott oder was in diesem göttlichen Stand ist, steht es zu, zu zürnen,
zu schelten und zu strafen, eben um der Leute willen, die dieses und andere Gebote
übertreten.
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Aber Ursache und Notwendigkeit dieses Gebots ist, daß Gott wohl weiß, wie böse die
Welt ist und daß es in diesem Leben viel Unglück gibt. Darum hat er dieses und an-
dere Gebote zwischen gut und böse gestellt. Wie es nun gegen alle Gebote Anfech-
tungen gibt, so ist es auch hier, weil wir unter vielen Leuten leben müssen, die uns
Leid antun, so daß wir einen Grund bekommen, ihnen feind zu sein: Zum Beispiel,
wenn dein Nachbar sieht, daß du ein besseres Haus und einen besseren Hof, mehr
Gutes und Glück von Gott hast als er, so ärgert es ihn, er beneidet dich und redet
nichts Gutes von dir. So bekommst du viele Feinde durch die Anreizung des Teufels,
die dir nichts Gutes, weder im leiblichen noch im geistlichen Sinne, gönnen. Wenn
man dann solche Leute sieht, will unser Herz wütend werden und Blut sehen und sich
rächen. Da beginnt dann ein Zurückfluchen und -schlagen, woraus schließlich Jam-
mer und Mord folgen. Dem kommt nun Gott zuvor wie ein freundlicher Vater und
legt sich ins Mittel und will den Hader trennen, so daß kein Unglück daraus entsteht
und nicht einer den anderen vernichtet. Und alles in allem will er hiermit einen jeden
beschirmt, der Verfolgung entzogen und gesichert haben vor jedermanns Frevel und
Gewalttat. Dieses Gebot hat er als Ringmauer, Festung und Freihei
um den Näch-
sten gestellt, damit man ihm weder Leid noch Körperverletzung antut.
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Der Sinn dieses Gebotes ist nun, daß man niemandem Leid antun soll um irgendeiner
Bosheit willen, obwohl er es hochverdient hätte. Denn wo Totschlag verboten ist, da
sind auch alle Ursachen verboten, aus denen Totschlag entspringt. Denn mancher,
auch wenn er nicht tötet, flucht doch und wünscht, daß der, der es am Hals haben soll,
nicht mehr weit laufen könne. Da es nun von Natur aus jedermann anhängt und allge-
mein üblich ist, daß keiner unter dem anderen leiden will, so will Gott die Wurzel und
den Ursprung wegräumen, durch die das Herz gegen den Nächsten verbittert wird. Er
will uns daran gewöhnen, daß wir allezeit dieses Gebot vor Augen haben und uns darin
spiegeln, Gottes Willen ansehen und ihm das Unrecht, das wir leiden, übergeben mit
herzlichem Vertrauen und Anrufen seines Namens und so jene feindlich toben und zür-
nen lassen, daß sie tun, was sie können. So soll ein Mensch lernen, seinen Zorn zu stil-
len und ein geduldiges, sanftes Herz zu tragen, besonders gegenüber denen, die ihm
Ursache geben zu zürnen, das heißt gegenüber seinen Feinden.
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Darum ist alles zusammengenommen (um den einfachen Leuten aufs deutlichste ein-
zuprägen, was es bedeutet) „nicht töten“ zum ersten, daß man niemandem mit der
Hand oder Tat Leid antun soll. Dann soll man auch die Zunge nicht dazu brauchen
lassen, jemandem zu solcher Tat zuzureden oder zu raten; außerdem soll man keiner-
lei Mittel oder Weisen benutzen oder zulassen, wodurch jemand beleidigt werden
könnte. Schließlich soll das Herz niemandem feind sein und niemandem aus Zorn und
63 „Freiheit“ im Sinne einer Freistätte, in der jeder vor Verfolgung sicher ist.