Der Große Katechismus
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solche Herrschaft ist, da geht es ohne diese Sünde nicht ab. Ursache ist diese: Denn
wo Richter, Bürgermeister, Fürst und andere Obrigkeit sitzt, da fehlt es nie. Es geht
nach dem Lauf der Welt. Weil man niemanden gern kränken will, heuchelt man, re-
det um Gunst, Geld, Hoffnung oder Freundschaft. Dabei muß ein Armer, der mit sei-
ner Sache in Bedrängnis ist, unrecht haben und Strafe erleiden. Und es ist eine ver-
breitete Plage in der Welt, daß im Gericht selten rechtschaffene Leute sitzen. Denn es
gehört vor allen Dingen ein rechtschaffener Mann zum Richter, aber nicht nur ein
rechtschaffener, sondern auch ein weiser, gescheiter, ja auch kühner und mutiger
Mann. Ebenso gehört ein mutiger, dazu vor allem rechtschaffener Mann zum Zeugen.
Denn wer alle Sachen recht richten und mit dem Urteil durchgreifen soll, wird oftmals
gute Freunde, Verwandte, Nachbarn, Reiche und Mächtige erzürnen, die ihm viel
nützen oder schaden können. Darum muß er blind sein, Augen und Ohren verschlie-
ßen, nichts sehen oder hören als gerade das, was er vor sich hat, und danach urteilen.
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Darauf bezieht sich dieses Gebot zuerst, daß jeder seinem Nächsten zu seinem Recht
verhelfe und es nicht hindern oder beugen lasse, sondern es fördert und darüber
wacht, sei er nun Richter oder Zeuge und gehe es, um was es wolle. Und besonders ist
damit unseren Herren Juristen ein Ziel gesetzt, damit sie zusehen, daß sie recht und
aufrichtig mit den Sachen umgehen, was recht ist, recht bleiben lassen, und wie-
derum nichts verdrehen, bemänteln oder verschweigen ohne Rücksicht auf Geld, Gut,
Ehre oder Herrschaft. Das ist ein Stück und der einfachste Sinn dieses Gebotes, auf
alles bezogen, was vor Gericht geschieht.
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Danach erstreckt es sich sehr viel weiter, wenn man es auf das geistliche Gericht oder
die geistliche Herrschaft überträgt. Da geschieht es ebenso, daß jeder gegen seinen
Nächsten falsches Zeugnis ablegt. Denn wo es fromme Prediger und Christen gibt,
haben sie vor der Welt das Urteil, heißen Ketzer, Abtrünnige, ja aufrührerische und
verzweifelte Bösewichte. Dazu muß sich Gottes Wort aufs schändlichste und giftigste
verfolgen, lästern, Lügen strafen, verdrehen und falsch anwenden und deuten lassen.
Aber das gehe seinen Weg. Denn es ist die Art der blinden Welt, daß sie die Wahr-
heit und Gottes Kinder verdammt und verfolgt und das doch für keine Sünde hält.
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Drittens ist, was uns alle angeht, in diesem Gebot jede Sünde der Zunge verboten, wo-
durch man dem Nächsten schaden könnte oder ihn kränkt. Denn „falsch Zeugnis reden“
geschieht nicht anders als durch das Mundwerk: Was man nun mit dem Mundwerk
gegen den Nächsten tut, das will Gott abwehren, seien es falsche Prediger, was die Leh-
re und das Lästern betrifft, seien es falsche Richter und Zeugen mit ihrem Urteil oder
sonst außerhalb des Gerichts andere mit Lügen und übler Nachrede. Dahin gehört vor
allem das leidige, schändliche Laster: üble Nachrede oder Verleumdung. Damit reitet
uns der Teufel, wovon viel zu reden wäre. Denn es ist eine verbreitete, schädliche Pla-
ge, daß jedermann lieber Böses als Gutes von dem Nächsten sagen hört. Und obwohl
wir selbst so böse sind, können wir es nicht ertragen, daß uns jemand eine böse Sache
nachsagt, sondern jeder will gerne, daß alle Welt das Beste von ihm redet. Doch wir
können es nicht hören, daß man das Beste von anderen sagt.