Der Große Katechismus
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den Bösewicht verbergen, suchen und ersinnen so schlaue Kniffe und tückische Listen
(wie man sie jetzt täglich aufs beste erdenkt), als hätten wir es aus dem Recht ent-
nommen, wagen, uns darauf frech zu berufen, bestehen darauf und wollen solches
nicht Bosheit, sondern Geschick und Klugheit genannt haben. Dazu verhelfen uns
auch Juristen und Rechtsprecher, die das Recht drehen und dehnen, wie es der Sache
dienen kann, die Worte pressen und als Vorwand nehmen, ohne auf Billigkeit und die
Not des Nächsten zu sehen. Alles in allem: Wer in solchen Sachen der Geschickteste
und Gescheiteste ist, dem hilft das Recht am besten, wie auch das Sprichwort lautet:
„Vigilantibus jura subveniunt.
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Darum ist dieses letzte Gebot nicht für die Bösewichte vor der Welt gesagt, sondern
eben für die Rechtschaffensten bestimmt, die gelobt sein und redliche und aufrichtige
Leute genannt werden wollen, da sie gegen die vorigen Gebote sich nichts zuschul-
den kommen lassen. Als solche wollen vor allem die Juden gelten und noch viele
große Junker, Herren und Fürsten. Denn der andere gewöhnliche Haufen gehört weit
herunter in das siebte Gebot, weil sie nicht viel danach fragen, wie sie das Ihre mit
Ehre und Recht gewinnen.
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So geschieht dies am meisten in den Streitigkeiten, die vor Gericht verhandelt wer-
den, in denen man sich vornimmt, dem Nächsten etwas abzugewinnen und abzuzwin-
gen. So, um ein Beispiel zu geben, wenn man wegen einer großen Erbschaft, liegen-
der Güter usw., miteinander hadert und verhandelt. Da führt man an und nimmt zur
Hilfe, was einen Schein des Rechtes hat, motzt es auf und putzt es heraus, so daß das
Recht diesem zufallen muß, und behält das Gut mit solchem Rechtsgrund, daß nie-
mand eine Klage dagegen oder einen Anspruch darauf erheben kann. Ebenso: Wenn
einer gerne ein Schloß, eine Stadt, Grafschaft oder sonst etwas Großes hätte, betreibt
er so viel Bestechung durch Freundschaftsdienste und womit er kann, daß es einem
anderen ab- und ihm zugesprochen wird. Dazu läßt er sich mit Brief und Siegel be-
stätigen, daß es heißt, es sei mit fürstlicher Legitimation und redlich erlangt.
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Ebenso geschieht es auch bei gewöhnlichen Geschäften, wo einer dem anderen etwas
listig aus der Hand nimmt, so daß jener das Nachsehen hat. Oder er überfährt und
bedrängt ihn, woraus er sich einen Vorteil und Nutzen verspricht, sei es, daß jener
vielleicht aus Not oder Verschuldung es nicht halten, es auch nicht ohne Verlust ver-
kaufen kann. So daß dieser es halb oder mehr umsonst hat, und gleichwohl soll es
nicht mit Unrecht genommen oder entwendet, sondern redlich gekauft sein. Da heißt
es: „Der erste der Beste“ oder „Jeder nutze seine Chance“, ein anderer habe, was er
kann. Und wer wollte so klug sein, alles auszudenken, was man mit solch hübschem
Schein an sich bringen kann. Die Welt hält es nicht für Unrecht und will nicht sehen,
daß damit der Nächste in Nachteil gebracht wird und aufgeben muß, was er nicht
ohne Schaden entbehren kann, obwohl doch niemand will, daß ihm selbst solches ge-
schieht. Daran ist wohl zu spüren, daß ein solcher Vorwand und Anschein falsch ist.
70 „Den Wachsamen hilft das Recht.“