Das Augsburger Bekenntnis
92
Darüber hinaus erörtert man auch, ob die Bischöfe oder Pastoren das Recht haben,
Zeremonien in der Kirche anzuordnen und Vorschriften über Speisen, Feiertage,
Rangstufen oder Ordnungen der Geistlichen zu erlassen. Diejenigen, die dieses Recht
den Bischöfen zuerkennen, führen als Beweis an: „Noch vieles habe ich euch zu sagen,
aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen
wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten“ (Joh 16, 12.13). Sie führen auch das Beispiel
der Apostel an, die anordneten, Blut und Ersticktes zu meiden (Apg 15, 29). Man führt
den Sabbat an, der mit dem Sonntag vertauscht wurde – gegen den Dekalog, wie man
sieht. Und kein Beispiel wird mehr erörtert als die Wandlung des Sabbats. Sie be-
haupten, die Macht der Kirche sei groß, weil sie über ein Gebot des Dekalogs eine
Verfügung traf.
[126] Über diese Frage aber lehren die Unsrigen so: Die Bischöfe haben, wie oben
gezeigt wurde, keine Vollmacht, etwas gegen das Evangelium festzusetzen. Das ge-
ben auch die Kirchengesetze zu erkennen, die ganze 9. Distinktion
Sodann: Es ist
gegen die Schrift, Überlieferungen festzulegen, durch deren Befolgung wir für die
Sünden genugtun oder verdienen sollen, gerechtfertigt zu werden. Denn es wird die
Ehre des Verdienstes Christi angetastet, wenn wir meinen, durch derartige Kulthand-
lungen gerechtfertigt zu werden. Es steht aber fest, daß aufgrund dieser Überzeugung
in der Kirche die Überlieferungen fast grenzenlos zugenommen haben, während zu-
gleich die Lehre vom Glauben und der Glaubensgerechtigkeit unterdrückt wurde.
Denn nach und nach wurden viele Feiertage gemacht, Fastenzeiten auferlegt, neue
Zeremonien und neue Ordnungen eingesetzt, weil die Urheber solcher Dinge über-
zeugt waren, durch diese Werke Gnade zu verdienen. So wuchsen einst die Handbü-
cher für Bußvorschriften an, deren Spuren wir noch jetzt in den Genugtuungsleistun-
gen erkennen.
a
Desgleichen handeln die Urheber von Überlieferunge
gegen Gottes Gebot,
wenn sie die Sünde festmachen bei Speisen, Tagen und ähnlichen Dingen und die
Kirche mit einer Gesetzesknechtschaft beladen, als müsse es bei den Christen zum
Verdienen der Rechtfertigung einen Kult wie den levitischen geben, dessen Anord-
nung Gott den Aposteln und Bischöfen übertragen hätte. So nämlich schreiben eini-
ge, und die Päpst
scheinen zum Teil durch das Vorbild des mosaischen Gesetzes
irregeleitet worden zu sein. Von daher kommen jene Lasten: daß es eine Todsünde
sei, [127] auch ohne Ärgernis für andere an Feiertagen zu arbeiten; daß bestimmte
Speisen das Gewissen beflecken; daß Fasten (nicht der Natur [entsprechende], son-
dern schädliche) Gott wohlgefällige Werke seien; daß es eine Todsünde sei, kirchen-
gesetzlich verordnete Stunden zu versäumen; daß eine Sünde, die einen Vorbehalts-
fall betrifft, nicht vergeben werden könne, außer wenn die Autorität des Vorbehal-
tenden tätig würde, obwohl die Kirchengesetze selbst hier nicht vom Vorbehalt der
Schuld, sondern vom Vorbehalt der kirchlichen Strafe sprechen.
aa
140 Decretum Gratiani, Teil 1.
141 Deutscher Text: „[diejenigen,] die menschliche Satzungen aufrichten“.
142 Deutscher Text: Bischöfe.