Die Bekenntnisschriften - page 60

Das Augsburger Bekenntnis
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[Gute leibliche Zucht] Hier aber schreien die Gegner, durch diese Lehre werde die öffentliche
Ordnung zu Fall gebracht, und eine Anarchie bewirkt; auch würden im Sinne der Lehre Jovini-
ans
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die guten Werke und die Abtötung des Fleisches aufgehoben. Diese Verleumdung haben
wir zum Teil schon widerlegt. Denn es entsteht keine Anarchie, auch kommt die öffentliche
Ordnung nicht zu Fall, wenn wir lehren, daß Überlieferungen, die einen politischen Zweck
haben, zu beachten sind. Wir lehren auch, daß Ärgernisse vermieden werden müssen.
Hinsichtlich der Abtötung des Fleisches aber antworten wir so: Eine wahrhaftige und
ungeheuchelte Abtötung ist es, das Kreuz zu tragen und in Gefahren, Trübsal und Ängsten zu
leben. Solcher Gehorsam ist ein Gottesdienst und ein geistliches Werk, wie der Psalm (51, 19)
lehrt: „Das Opfer für Gott ist ein geängsteter Geist“ usw.
Wir lehren darüber hinaus, daß eine andere Art von Übungen notwendig ist. Jeder Christ soll
auch durch leibliche Zucht, durch Arbeit, Mäßigkeit, Nachsinnen über göttliche Dinge und
andere für sein Alter passende Übungen sein Fleisch bändigen. Deren eigentlicher und nächster
Zweck muß darin bestehen, daß nicht Sattheit oder Müßiggang zum Sündigen treiben und daß
der Geist [CR 393] erinnert wird an geistliche Neigungen und für sie besser gerüstet wird. Nur
darf man nicht meinen, diese Übungen seien Gottesdienste, die Sündenvergebung verdienen oder
als Genugtuung zählen usw. Auch muß diese Zucht andauern. Und es können nicht bestimmte
Tage für alle in gleicher Weise vorgeschrieben werden. Von dieser Zucht sagt Christus (Lk 21,
34): „Hütet euch, daß eure Leiber nicht durch Völlerei beschwert werden.“ Ebenso: Diese Art
von Dämonen wird nicht ausgetrieben „außer durch Fasten und Gebet“ (Mk 9, 29). Und Paulus
sagt (1. Kor 9, 27): „Ich züchtige meinen Leib und mache ihn mir dienstbar.“ Darum tadeln wir
nicht das Fasten, sondern die abergläubischen Meinungen und die Fallstricke der Gewissen in
den Überlieferungen. Im übrigen sind diese Übungen – wenn sie zu dem Zweck geschehen, die
Leiber tüchtig zu haben für geistliche Dinge und für die Pflicht gemäß dem Beruf usw. – für die
Frommen gute Werke, wie das Beispiel Daniels bezeugt
117
Denn es sind Werke, die Gott zu dem
Zweck fordert, daß sie das Fleisch zähmen.
[
4
Als gute Ordnung bewahrte Überlieferungen] Dennoch bleiben bei uns zahlreiche
Traditionen erhalten, wie die Ordnung der Lesungen bei der Messe, Feiertage usw.,
welche dazu beitragen, daß die Dinge der Ordnung nach in der Kirche vonstatten
gehen. Die Leute werden aber dabei belehrt, daß ein solcher Gottesdienst nicht vor
Gott rechtfertigt und daß bei solchen Dingen, wenn sie ohne Ärgernis unterlassen
werden, nicht eine Sünde zu unterstellen ist. Diese Freiheit [107] bei menschlichen
Gebräuchen war den Vätern nicht unbekannt. Denn im Orient wurde das Osterfest zu
anderer Zeit als in Rom gehalten, und obwohl die Römer den Osten wegen dieser
Verschiedenheit des Schismas beschuldigten, wurden sie von anderen belehrt, daß
solche Sitten nicht überall gleich sein müssen
.
118
Auch Irenäus sagt: „Ein Unterschied
beim Fasten hebt nicht den Einklang des Glaubens auf.“
119
Und Papst Gregor zeigt in
der 12. Distinktion, daß eine solche Verschiedenheit nicht die Einheit der Kirche ver-
letzt
.
120
Auch werden in der Historia Tripartita, Buch 9, viele Beispiele unter-
117 Anspielung auf Dan 4, 24. Eine Wittenberger Disputation 1535 galt der Frage, ob Daniel hier den Werken die
Rechtfertigung zuschreibt.
118 Hinweis auf den altkirchlichen Streit im 2. Jahrhundert zwischen der römischen und den kleinasiatischen
Kirchen über den Ostertermin.
119 Irenäus, Bischof von Lyon († um 200), zitiert bei Euseb von Cäsarea, Kirchengeschichte, Buch 5, Kap. 24.
120 Gregor I. († 604), nach dem Decretum Gratiani, Teil 1.
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