Die Apologie des Augsburger Bekenntnisses
120
aber wird dann noch die Gnade Christi notwendig sein, wenn wir doch aufgrund ei-
gener Gerechtigkeit gerecht werden können? [CR 424] Wozu bedarf es des Heiligen
Geistes, wenn die menschlichen Kräfte aus sich selbst heraus Gott über alle Dinge
lieben und seine Gebote erfüllen können?
Wer sieht hier nicht, wie verkehrt die Gegner denken? Die leichteren Krankheiten
der menschlichen Natur lassen sie gelten, die schwereren aber nicht. Sie, an die uns
die Schrift doch überall erinnert und die die Propheten unablässig beklagen, nämlich
fleischliche Sicherheit, Gottesverachtung, Gotteshaß und ähnliche uns angeborene
Laster. Aber nachdem die Scholastiker der christlichen Lehre die Philosophie einer
Vollkommenheit der Natur beigemischt und, mehr als gut war, dem freien Willen und
den „hervorgelockten“ Werken zugerechnet haben, haben sie außerdem noch gelehrt,
daß die Menschen aufgrund einer philosophischen oder weltlichen Gerechtigkeit (von
der auch wir sagen, daß sie der Vernunft zugänglich ist und auf irgendeine Weise in
unserer Gewalt steht) vor Gott gerechtfertigt würden. Sie konnten die innere Verdor-
benheit der menschlichen Natur nicht wahrnehmen. Sie kann nämlich nur durch das
Wort Gottes erkannt werden, das die Scholastiker in ihren Disputationen nicht oft
behandeln.
[150] Dies waren die Gründe, warum wir bei der Beschreibung der Erbsünde auch
die Begierde erwähnt und den menschlichen Kräften die Fähigkeit zur Gottesfurcht
und zum Vertrauen auf Gott abgesprochen haben. Wir wollten nämlich zeigen, daß
die Erbsünde auch diese Seuchen umfaßt: die Unkenntnis in Bezug auf Gott, die Ver-
achtung Gottes, das Fehlen von Gottesfurcht und Gottvertrauen, die Unfähigkeit, Gott
zu lieben. Dies sind die schlimmsten Fehler der menschlichen Natur, und sie stehen
eigentlich im Widerstreit mit der ersten Tafel der Zehn Gebot
.
[Übereinstimmung der reformatorischen Lehre mit der kirchlichen Tradition]
8
Und doch haben wir damit nichts Neues gesagt. Die alte Definition besagt nämlich –
richtig verstanden – genau dasselbe, wenn sie sagt: „Die Erbsünde ist ein Mangel an
ursprünglicher Gerechtigkeit.“ Was aber heißt hier „Gerechtigkeit“? Die Scholastiker
streiten an dieser Stelle über spitzfindige Fragen, erklären aber nicht, was die Erb-
sünde ist. Ferner umfaßt die Gerechtigkeit nach der Heiligen Schrift nicht nur die
zweite Tafel der Zehn Gebot
, sondern auch die erste. Die [aber] enthält Gebote
über die Gottesfurcht, den Glauben und die Liebe zu Gott. Deshalb beinhaltet die
ursprüngliche Gerechtigkeit nicht nur eine Ausgewogenheit der körperlichen Eigen-
schaften, sondern auch folgende Gaben: eine zuverlässige Gotteserkenntnis, Gottes-
furcht, Gottvertrauen oder doch immerhin eine gewisse Rechtschaffenheit und die
Kraft, solche Regungen hervorzubringen. Und dies bezeugt auch die Heilige Schrift,
wenn sie sagt, der Mensch sei „zum Bilde und zum Gleichnis“ Gottes geschaf-
fen (1. Mose 1, 26 f.). Denn was bedeutet dies anderes, als daß sich im Menschen
15 Die „erste Tafel“: die Gebote, die sich auf Gott beziehen (erstes bis drittes Gebot nach der lutherischen Zählung).
16 Die „zweite Tafel“ umfaßt die Gebote, die sich auf die Mitmenschen beziehen.