Die Apologie des Augsburger Bekenntnisses
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eben die Weisheit und Gerechtigkeit abbildet, die Gott erfaßt und in der sich Gott
selbst spiegelt, das heißt, daß dem Menschen Gaben verliehen worden sind: die
Erkenntnis Gottes, die Gottesfurcht, das Gottvertrauen und dergleichen? So nämlich
deuten die Gottebenbildlichkeit Irenäus und Ambrosius, der auch sonst noch viel zu
dieser Frage anmerkt. Er sagt einmal dies: [CR 425] „Es gibt also keine nach dem
Bilde Gottes geschaffene Seele, in der nicht Gott alle Zeit ist.“
[151] Auch zeigt
Paulus in seinen Briefen an die Epheser und Kolosser, daß das Abbild Gottes die
Gotteserkenntnis, „die Gerechtigkeit und die Wahrheit“ ist (Eph 5, 9; Kol 3, 10). Und
Petrus Lombardus hat keine Scheu zu behaupten, die ursprüngliche Gerechtigkeit sei
eben die Gottesebenbildlichkeit, die dem Menschen von Gott verliehen worden sei
Wir tragen hier Formulierungen der Alten vor, die der Abbild-Deutung des Augusti-
nus in keiner Weise zuwiderlaufen.
Wenn die herkömmliche Definition die Sünde als einen Mangel an Gerechtigkeit
bezeichnet, bestreitet sie nicht allein den Gehorsam der niederen menschlichen Kräf-
te, sondern auch die Gotteserkenntnis, das Gottvertrauen, die Gottesfurcht und die
Gottesliebe – oder zumindest die Fähigkeit, solche Regungen hervorzubringen. Denn
selbst die Theologen in ihren Schulen lehren, daß dies nicht ohne besondere Gaben
und die Unterstützung der Gnade geschieht. Und damit dies verständlich wird, nen-
nen wir eben diese Gaben: die Gotteserkenntnis, die Gottesfurcht und das Vertrauen
auf Gott. Daraus wird ersichtlich, daß die alte Definition ganz dasselbe sagt, was wir
sagen, wenn wir [den Menschen] Gottesfurcht und Gottvertrauen absprechen, und
zwar nicht nur Handlungen, sondern auch die Gaben und die Kraft, dies zu bewirken.
[Definition: Begierde]
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Genau dies ist auch der Sinn der Definition, die sich bei Augustinus findet, der die
Erbsünde für gewöhnlich „Begierde“ nennt [152] und damit zum Ausdruck bringt,
daß die Begierde an die Stelle der ursprünglichen Gerechtigkeit getreten ist. Denn die
kranke Natur, die Gott nicht fürchten und lieben und ihm nicht glauben kann, sucht
und liebt die fleischlichen Dinge; und sie verachtet entweder im Gefühl der Sicher-
heit das Gericht Gottes, oder haßt es, weil sie erschreckt ist. Auf diese Weise faßt
Augustinus sowohl den Mangel als auch den sündhaften Zustand, der sich aus ihm
ergibt, zusammen. Dennoch ist die Begierde nicht nur eine Verdorbenheit der kör-
perlichen Eigenschaften, sondern auch eine böse Hinwendung zum Fleischlichen im
Bereich der edleren Kräfte. Aber sie begreifen nicht, was sie sagen, wenn sie dem
Menschen zugleich die nicht durch den Heiligen Geist getötete Begierde und eine
alles übersteigende Liebe zu Gott zuschreiben.
Deshalb haben wir bei der Beschreibung der Erbsünde mit Recht beides zum Aus-
druck gebracht, nämlich jene Mängel, Gott nicht glauben und ihn nicht fürchten oder
lieben zu können, und ebenso, die Begierde zu haben, die wider Gottes Wort das
17 Ambrosius von Mailand († 397), Hexaemeron (Predigten über das Sechstagewerk), Buch 6, Kap. 8, 45.
18 Petrus Lombardus († 1160), Sentenzen, Buch 2, Abschn. 16, Kap. 4.