Die Apologie des Augsburger Bekenntnisses
122
Fleischliche sucht, d. h. nicht nur Vergnügungen des Körpers sucht, sondern auch
fleischliche Weisheit und Gerechtigkeit, und in diese Güter ihr Vertrauen setzt, womit
sie Gott verachtet. Und nicht allein die alten Lehrer, sondern auch die späteren –
sofern sie nur etwas verständiger sind – lehren, daß dies zusammen tatsächlich die
Erbsünde sei: die diversen Mängel, die ich aufgezählt habe, und die Begierde. Denn
so sagt Thomas: „Die Erbsünde bedeutet einen Verlust der ursprünglichen Gerech-
tigkeit und damit verbunden eine ungeordnete Verfassung der Seelenteile. Deshalb ist
sie nicht nur ein bloßer Verlust, sondern [zugleich auch] ein bestimmter verdorbener
Zustand.“
Und Bonaventura schreibt: „Wenn gefragt wird, was die Erbsünde sei, so
ist dies die richtige Antwort: Sie ist eine ungezügelte Begierde. Richtig ist auch die
Antwort: [CR 426] Sie ist ein Mangel an der geschuldeten Gerechtigkeit. Und in jeder
dieser beiden Antworten ist die andere eingeschlossen.
Dasselbe meint auch Hugo
von St. Viktor, wenn er sagt: „Die Erbsünde ist Unkenntnis im Geist und Begierde im
Fleisch.“
Er macht nämlich deutlich, daß wir von Geburt an eine Unkenntnis in
bezug auf Gott, Unglauben, Mißtrauen, Verachtung und Haß gegenüber Gott in uns
tragen. All dies nämlich meint er, [153] wenn er von Unkenntnis spricht. Und diese
Auffassungen stimmen mit der Heiligen Schrift überein. Denn Paulus nennt sie
bisweilen ganz ausdrücklich einen Mangel, so z. B. in 1. Kor 2 (v. 14): „Der natürliche
Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes.“ Und anderswo hebt er hervor, daß die
Begierde in den Gliedern wirksam sei und viele böse Früchte trage (Röm 7, 5). Zu
beidem könnten wir noch viel mehr Belege anführen. Aber in einer derart
offenkundigen Sache bedarf es keiner [weiteren] Beweise. Der kluge Leser kann
leicht erkennen, daß ohne Gottesfurcht und ohne Glauben zu sein nicht nur Tatsünden
sind. Sie sind nämlich dauerhafte Schäden in der nicht erneuerten Natur.
Wir lehren also nichts anderes über die Erbsünde, als die Schrift oder die katholi-
sche Kirche von ihr lehren. Vielmehr befreien wir die wichtigsten Schrift- und Vä-
terworte, die infolge der sophistischen Streitereien der späteren Theologen verschüttet
worden sind, vom Unrat und haben sie wieder ans Tageslicht gebracht. Denn die
Sache selbst verrät, daß die neueren Theologen nicht begriffen haben, was die Väter
ausdrücken wollten, als sie von einem „Mangel“ sprachen. Eine richtige Erkenntnis
der Erbsünde ist aber unbedingt notwendig. Denn die Größe der Gnade Christi kann
nur dann verstanden werden, wenn zuvor unsere eigenen Krankheiten erkannt sind.
Und die ganze Weisheit des Menschen ist bloße Heuchelei vor Gott, wenn wir nicht
begriffen haben, daß unser Herz von Natur ganz ohne Liebe, Furcht und Vertrauen zu
Gott ist. Deshalb sagt der Prophet: „Als ich zur Einsicht kam, schlug ich an meine
Brust“ (Jer 31, 19). Und weiter: „Ich sprach in meinem Zagen: Alle Menschen sind
Lügner“ (Ps 116, 11); d. h., sie denken nicht richtig von Gott.
19 Thomas von Aquin, Summe der Theologie, Teil 2, 1, Frage 82, Art. 1.
20 Bonaventura, Kommentar zu den Sentenzen, Buch 2, Abschn. 30, Art. 2.
21 Hugo von St. Viktor, Von den Sakramenten, Buch 1, Abschn. 7, Kap. 28.