Die Bekenntnisschriften - page 153

Die Apologie des Augsburger Bekenntnisses
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[Kein Zwang zur Aufzählung aller Sünden]
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Über die Aufzählung der Sünden in der Beichte
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werden die Leute so belehrt, [251]
daß den Gewissen keine Fesseln angelegt werden. Obwohl es nützlich ist, grobe
Menschen daran zu gewöhnen, einiges aufzuzählen, damit sie leichter unterwiesen
werden können: Jetzt sprechen wir davon, was nach göttlichem Recht notwendig ist.
Daher hätten uns die Gegner auch nicht die Konstitution „Omnis utriusque“, die uns
nicht unbekannt ist, vorhalten sollen, sondern sie hätten aus göttlichem Recht nach-
weisen sollen, daß eine Aufzählung der Sünden nötig ist, um Vergebung zu erlangen.
Die ganze Kirche in ganz Europa weiß, welche Fesseln jener Teil der Konstitution,
der alle Sünden zu beichten befiehlt, den Gewissen angelegt hat.
Allerdings enthält der Text an sich nicht soviel Anstößiges, wie ihm später die
Summiste
n
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, die die Begleitumstände der Sünden zusammentragen, hinzugedichtet
haben. Was für Labyrinthe findet man dort! Was für eine Folter ist das für die besten
Herzen gewesen! Denn zügellose und der Welt verhaftete Menschen ließen sich
durch diese Abschreckungen nicht beeindrucken. Was für schlimme Geschichten hat
die Frage nach dem zuständigen Priester später zwischen den Pfarrern und den
[Mönchs-]Brüdern ausgelöst, die dann, wenn sie um die Beichthoheit stritten,
keineswegs „Brüder“ waren. Wir meinen also, [CR 537] daß die Aufzählung der
Sünden nach göttlichem Recht nicht notwendig ist. Und das findet Zustimmung auch
bei Panormitanus
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und den meisten anderen erfahrenen Rechtslehrern. Wir wollen
den Gewissen der Unseren wegen dieser Konstitution „Omnis utriusque“ keinen
Zwang auferlegen. Wir denken über sie wie über sonstige Menschensatzungen, von
denen wir meinen, daß sie keine zur Rechtfertigung notwendigen Kulte sind. Auch
schreibt diese Konstitution etwas Unmögliches vor: daß wir alle Sünden bekennen
sollen. Es steht aber fest, daß wir uns der meisten weder erinnern noch sie überhaupt
erkennen, nach jenem Wort: „Die Vergehen – wer kennt sie?“ (Ps 19, 13).
Wenn die Pfarrer tüchtig sind, wissen sie, inwieweit es nützt, rohe Menschen [in der
Beichte] zu befragen. [252] Jene Folter der Summisten aber wollen wir nicht
aufrechterhalten. Sie wäre freilich weniger unerträglich gewesen, wenn sie ein Wort
über den die Gewissen tröstenden und aufrichtenden Glauben dazugesetzt hätten.
Jetzt aber findet sich über den Glauben, der der Sündenvergebung folgt, in diesem
riesigen Wust von Konstitutionen, Erläuterungen, Summen und Beichtbüchern nicht
eine Silbe. Nirgends liest man dort etwas von Christus. [Statt dessen] liest man [dort]
nur Auflistungen von Sünden. Und der größte Teil wird auf Sünden gegen menschli-
che Traditionen verwandt. Das ist ganz nichtig. Diese Lehre hat viele fromme Gemü-
ter in die Verzweiflung getrieben. Sie konnten keine Ruhe finden, weil sie die Auf-
zählung nach göttlichem Recht für notwendig hielten und doch die Erfahrung mach-
82 Das IV. Laterankonzil (1215), Kap. 21, forderte eine jährliche vollständige Beichte aller Sünden. Im Falle der
Unterlassung sollte das Betreten der Kirche und das christliche Begräbnis verwehrt werden.
83 S. o. Nr. 84, Anm. 74.
84 Nikolaus de Tudeschis, Erzbischof von Palermo (genannt „Panormitanus“ [= der Palermitaner], † 1445), ein
berühmter Kommentator der späteren Teile des kanonischen Rechts.
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