Der Große Katechismus
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Gott immer in den Ohren liege, rufe und bitte, daß er uns den Glauben und die Erfül-
lung der Zehn Gebote gebe, erhalte und mehre und alles, was uns im Wege liegt und
daran hindert, wegräume. Damit wir aber wissen, was und wie wir beten sollen, hat
uns unser Herr Christus selbst Weise und Wort gelehrt, wie wir sehen werden.
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Ehe wir aber das Vaterunser nach und nach erklären, ist es wohl am nötigsten, vorher
die Leute zu mahnen und zum Gebet zu verlocken, wie es auch Christus und die
Apostel getan haben. Und es soll nämlich das erste sein, daß wir wissen, wie wir um
Gottes Gebotes willen schuldig sind zu beten. Denn so haben wir es im zweiten Ge-
bot gehört: „Du sollst Gottes Namen nicht unnütz gebrauchen“, daß darin gefordert
wird, den heiligen Namen zu preisen, in aller Not anzurufen oder zu beten. Denn an-
rufen ist nichts anderes als beten. So ist es streng und ernsthaft geboten, so sehr wie
alle anderen Gebote (keinen anderen Gott zu haben, nicht zu töten, nicht zu stehlen
usw.), daß niemand denke, es sei gleichgültig, ich bete oder bete nicht, wie die groben
Leute etwa hingehen in solchem Wahn und Gedanken: „Was sollt ich beten, wer
weiß, ob Gott mein Gebet achtet oder hören will? Bete ich nicht, so betet ein ande-
rer“, und kommen so in die Gewohnheit, daß sie überhaupt nicht mehr beten, und
nehmen es als Vorwand, daß wir falsche und Heuchelgebete verwerfen, so als lehrten
wir, man solle oder brauche nicht zu beten.
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Das ist aber wirklich wahr: Was man bisher für Gebete verrichtet hat, geplärrt und
gebrüllt in den Kirchen usw., sind freilich keine Gebete gewesen. Denn eine solche
äußerliche Sache mag, wo es recht zugeht, eine Übung für die kleinen Kinder, Schü-
ler und einfachen Leute sein, und es mag gesungen oder gelesen genannt werden,
nicht aber eigentlich gebetet. Das aber nennt man Gebet, wie das zweite Gebot lehrt:
„Gott anrufen in allen Nöten“. Das will er von uns haben, und es soll nicht in unse-
rem Belieben stehen, sondern wir sollen und müssen beten, wollen wir Christen sein,
ebenso wie wir Vater, Mutter und der Obrigkeit gehorsam sein sollen und müssen.
Denn durch das Anrufen und Bitten wird der Name Gottes geehrt und nützlich ge-
braucht. Das sollst du nun vor allen Dingen merken, daß man damit solche Gedan-
ken, die uns davon abhalten und abschrecken, zum Schweigen bringt und zurück-
stößt. Es geht nicht, daß ein Sohn zum Vater sagen wollte: „Was liegt an meinem
Gehorsam? Ich will hingehen und tun, was ich kann, es ist doch gleichgültig.“ Son-
dern da steht das Gebot: Du sollst und mußt es tun. So steht es auch hier nicht in mei-
nem Willen, es zu tun oder zu lassen, sondern es soll und muß gebetet werden.
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Daraus sollst du nun schließen und denken, weil es so eindringlich geboten ist zu
beten, daß beileibe niemand sein Beten verachten soll, sondern er soll groß und viel
davon halten. Und nimm immer den Vergleich mit den anderen Geboten: Ein Kind
soll beileibe nicht seinen Gehorsam gegen Vater und Mutter verachten, sondern im-
mer denken: „Das Werk ist ein Werk des Gehorsams, und was ich tue, tue ich nicht in
anderer Meinung, als daß es im Gehorsam und in Gottes Gebot geschehe, so daß ich
mich darauf stützen und darauf fußen kann und solches groß achte nicht um meiner
Würdigkeit, sondern um des Gebotes willen.“ So auch hier, was und wofür wir bitten,
sollen wir als von Gott gefordert und in seinem Gehorsam getan ansehen und also