Der Große Katechismus
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wesen sind, solche, die aus lauter Zwang und Furcht vor menschlichem Gebot ohne
Lust und Liebe hingegangen sind und das Gebot Christi nie angesehen haben. Wir
aber zwingen oder drängen niemanden, und das darf auch niemand uns zu Dienst oder
Gefallen tun. Das soll dich aber locken und von selbst zwingen, daß er es haben will
und es ihm gefällt. Von Menschen soll man sich weder zum Glauben noch zu irgend
einem guten Werk zwingen lassen. Wir tun nicht mehr, als daß wir sagen und ermahnen,
was du tun sollst, nicht um unsert-, sondern um deinetwillen. Er lockt und ermuntert
dich. Willst du solches verachten, so verantworte das selbst.
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Das soll nun das erste sein, vor allem für die Kalten und Nachlässigen, daß sie über
sich selbst nachdenken und wach werden. Denn das ist gewiß wahr, wie ich auch an
mir selbst erfahren habe und jeder bei sich finden wird, daß, wenn man sich dem ent-
zieht, man von Tag zu Tag desto mehr stumpf und kalt wird und es ganz in den Wind
schlägt. Statt dessen muß man sich eben mit dem Herzen und Gewissen befragen und
als ein Mensch stellen, der sich gerne mit Gott gut stehen will. Je mehr nun solches
geschieht, desto mehr wird das Herz erwärmt und entflammt, so daß es nicht ganz
erkaltet. Sprichst du aber: „Wie denn, wenn ich fühle, daß ich nicht bereit bin?“ Ant-
wort: Das ist auch meine Anfechtung, besonders von dem alten Wesen unter dem
Papst her, in dem man sich so zermartert hat, daß man ganz rein wäre und Gott nicht
den geringsten Makel an uns fände. Davon wurden wir so eingeschüchtert, daß sich
gleich jedermann entsetzt und gesagt hat: „O weh, du bist nicht würdig.“ Denn da
fängt Natur und Vernunft an, unsere Unwürdigkeit gegen das große, teure Gut aufzu-
rechnen. Da findet man sie dann als eine trübe Laterne gegenüber der lichten Sonne
oder als Mist gegenüber Edelsteinen. Und weil sie solches sieht, will sie nicht hinzu-
gehen und wartet, bis sie bereit sein werde, solange daß eine Woche die andere und
ein halbes Jahr das andere bringt. Aber wenn du darauf Rücksicht nehmen willst, wie
rechtschaffen und rein du bist, und darauf aus bist, daß dich nichts beißt, so kannst du
niemals hinzukommen.
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Deshalb soll man hier die Leute unterscheiden: Denen, die frech und wild sind, soll
man sagen, daß sie davon wegbleiben sollen. Denn sie sind nicht bereit, Vergebung
der Sünde zu empfangen, da sie sie nicht begehren und ungern fromm sein wollen.
Die andern aber, die nicht solche stumpfen und haltlosen Leute sind und gerne fromm
wären, sollen sich nicht davon fernhalten, auch wenn sie sonst schwach und gebrech-
lich sind. Wie auch Sankt Hilarius gesagt hat
: „Wenn eine Sünde nicht so groß ist,
daß man jemanden zu Recht aus der Gemeinde ausstoßen und für einen Nichtchristen
halten kann, soll man nicht vom Sakrament wegbleiben“, damit man sich nicht des
Lebens beraube. Denn soweit wird niemand kommen, daß er nicht viele alltägliche
Fehler und Verfehlunge
im Fleisch und Blut behalte.
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Darum sollen solche Leute lernen, daß es die höchste Kenntnis ist zu wissen, daß un-
ser Sakrament nicht auf unserer Würdigkeit beruht. Denn wir lassen uns nicht taufen
109 Hilarius von Poitiers († 367), zit. nach dem Decretum Gratiani, und Augustin († 430), Brief 54, Kap. 3.
110 Bei Luther wörtlich: „viel täglicher Gebrechen“.