Die Bekenntnisschriften - page 486

Bündige Zusammenfassung strittiger Artikel
219
7. Dagegen verwerfen wir auch die falsche Lehre der Manichäe
r
8
, wenn gelehrt wird,
daß die Erbsünde als etwas Wesentliches und Selbständiges durch den Satan in die
Natur eingegossen und mit ihr vermengt worden sei, wie Gift und Wein miteinander
vermengt werden.
8. Ebenso, daß nicht der natürliche Mensch, sondern etwas anderes und Fremdes im
Menschen sündige, weswegen nicht die Natur, sondern allein die Erbsünde in der Na-
tur angeklagt werde.
9. Wir verwerfen und verdammen auch als einen manichäischen Irrtum, wenn gelehrt
wird, daß die Erbsünde eigentlich und ohne alle Unterscheidung des verderbten Men-
schen Substanz, Natur und Wesen selbst sei, so daß ein Unterschied zwischen der
verderbten Natur an sich nach dem Fall und der Erbsünde weder gedacht noch beides
in Gedanken voneinander unterschieden werden könne.
10. Diese Erbsünde wird von Luther Natursünde, Personsünde, wesentliche Sünde
genannt,
9
nicht aber in dem Sinne, daß die Natur, Person oder das Wesen des Men-
schen selbst ohne alle Unterscheidung die Erbsünde sei, sondern daß mit solchen Wor-
ten der Unterschied zwischen der Erbsünde, die in der menschlichen Natur steckt, und
den anderen Sünden, die man Tatsünde nennt, deutlich gemacht werde.
11. Denn die Erbsünde ist nicht eine Sünde, die man tut, sondern sie steckt in der Na-
tur, Substanz und Wesen des Menschen; also: Wenngleich kein böser Gedanke im
Herzen des verderbten Menschen aufstiege, kein unnützes Wort geredet würde und
keine böse Tat geschähe, so ist doch die Natur durch die Erbsünde verderbt, die uns
im sündlichen Samen angeboren wird und eine Quelle aller anderen Tatsünden ist, wie
böser Gedanken, Worte und Werke, wie geschrieben steht: „Aus dem Herzen kommen
arge Gedanken“ (Mt 15, 19), und ebenso: „Das Dichten des menschlichen Herzens ist
böse von Jugend auf“ (1. Mose 6, 5; 8, 21).
12. So ist auch wohl das unterschiedliche Verständnis des Wortes Natur zu beachten,
durch das die Manichäer ihren Irrtum verschleiern und viele einfältige Leute irre ma-
chen. Denn manchmal bedeutet es das Wesen des Menschen, wenn z. B. gesagt wird:
Gott hat die menschliche Natur geschaffen. Manchmal aber bedeutet es die Art und
Unart, die in der Natur oder dem Wesen steckt, wenn z. B. gesagt wird: Die Natur der
Schlange ist beißen, und die Natur und Art des Menschen ist sündigen und die Sünde.
Da meint das Wort Natur nicht die Substanz des Menschen, sondern etwas, das in der
Natur oder Substanz steckt.
13. Was aber die lateinischen Wörter „substantia“ und „accidens“
'
10
angeht, sollen sie
– weil sie nicht Worte der Heiligen Schrift und außerdem dem einfachen Volk unbe-
8 Der auf den Perser Mani zurückgehende Manichäismus des 4. Jahrhunderts fußt auf einer dualistischen Weltsicht,
die Lichtreich und Reich der Finsternis voneinander unterscheidet und den Vater des Lichts und den König der
Finsternis mit ihren Mächten und Aktivitäten einander gegenüberstellt.
9 Luther, Kirchenpostille (1522), Evangelium am Neujahrstage, Lk 2, 21; vgl. außerdem die Festpostille (1527),
Evangelium am Tage Mariä Empfängnis, Lk 11, 27.28; sowie Predigt über 1. Mose 22, 18 (1526).
10 In der Auseinandersetzung um die Erbsünde hatte Matthias Flacius Illyricus die Erbsünde als die „Substanz“, d. h.
als das Wesen des Menschen bezeichnet. Sein Gegner, Victorin Strigel, sprach dagegen der Erbsünde eine
Auswirkung auf die wesensmäßige Beschaffenheit des Menschen ab und nannte sie deshalb ein „Akzidens“.
1...,476,477,478,479,480,481,482,483,484,485 487,488,489,490,491,492,493,494,495,496,...549
Powered by FlippingBook