Die Bekenntnisschriften - page 489

Bündige Zusammenfassung strittiger Artikel
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3. Wir verwerfen auch den Irrtum der Semipelagianer
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, welche lehren, daß der
Mensch aus eigenen Kräften den Anfang seiner Bekehrung machen, aber ohne die
Gnade des Heiligen Geistes sie nicht vollbringen könne.
4. Ebenso [verwerfen wir], wenn gelehrt wird: Zwar sei der Mensch mit seinem freien
Willen vor seiner Wiedergeburt zu schwach, um den Anfang zu machen und sich
selbst aus eigenen Kräften zu Gott zu bekehren und Gottes Gesetz von Herzen gehor-
sam zu sein. Wenn jedoch der Heilige Geist mit der Predigt des Wortes den Anfang
gemacht und seine Gnade darin angeboten habe, dann könne der Wille des Menschen
aus seinen eigenen natürlichen Kräften heraus wenigstens etwas – wenn auch wenig
und schwach – dazutun, helfen und mitwirken, sich selbst zur Gnade bereitmachen
und auf sie vorbereiten, sie ergreifen, annehmen und dem Evangelium glauben.
5. Ebenso, daß der Mensch, nachdem er wiedergeboren ist, das Gesetz Gottes voll-
kommen halten und gänzlich erfüllen könne und daß eine solche Erfüllung unsere
Gerechtigkeit vor Gott sei, mit der wir das ewige Leben verdienen.
6. Ebenso verwerfen und verdammen wir auch den Irrtum der Enthusiaste
n
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, die vor-
geben, daß Gott ohne Mittel, ohne das Hören des Wortes Gottes, auch ohne den Ge-
brauch der heiligen Sakramente die Menschen zu sich ziehe, erleuchte, gerecht und
selig mache.
7. Ebenso, daß Gott in der Bekehrung und Wiedergeburt des alten Adam Substanz und
Wesen und insbesondere die vernünftige Seele ganz vertilge und in der Bekehrung
und Wiedergeburt ein neues Wesen der Seele aus dem Nichts erschaffe.
8. Ebenso, wenn die folgenden Aussagen ohne Erklärung gebraucht werden: daß der
Wille des Menschen vor, in und nach der Bekehrung dem Heiligen Geist widerstrebe
und daß der Heilige Geist denen gegeben werde, die ihm absichtlich und beharrlich
widerstreben. Denn Gott macht in der Bekehrung aus den Unwilligen Willige und
wohnt in den Willigen, wie Augustinus sagt.
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Was die Reden der alten und neuen Kirchenlehrer angeht, wenn da gesagt wird:
„Deus trahit, sed volentem trahit“, das heißt „Gott zieht, zieht aber die [zu sich], die
wollen“, ebenso: „Hominis voluntas in conversione non est otiosa, sed agit aliquid“,
das heißt „Des Menschen Wille ist nicht müßig in der Bekehrung, sondern wirkt auch
etwas
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, so halten wir dagegen, daß sie der Form der gesunden Lehre nicht ähnlich
und demnach, wenn von der Bekehrung zu Gott geredet wird, mit Recht zu meiden
seien. Denn solche Aussagen sind zur Bestätigung des natürlichen, freien Willens in
der Bekehrung des Menschen gegen die Lehre von der Gnade Gottes aufgebracht
worden.
15 Der Semipelagianismus des 5. Jahrhunderts lehrt, daß durch den Sündenfall der menschliche Wille zwar
geschwächt, aber dennoch eine Anlage zum Guten im Menschen erhalten geblieben sei. Ihr tritt die göttliche
Gnade zur Seite, so daß menschlicher Wille und göttliche Gnade zusammenwirken.
16 Die Konkordienformel bezeichnet diejenigen als Enthusiasten, die eine Geisterleuchtung außerhalb der Predigt
des Wortes Gottes für sich erhoffen und erwarten.
17 Augustin, Gegen zwei Briefe der Pelagianer an Bonifatius, Buch I, Kap. 19, 37.
18 Der Text bezieht sich hier auf umstrittene Äußerungen Melanchthons in seinen „Loci theologici“ 1535, für die er
sich auf eine Basilius d. Großen († 379) zugeschriebene Predigt über die Buße und auf Johannes Chryso-
stomus († 407) berufen hatte.
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