Die Bekenntnisschriften - page 55

Das Augsburger Bekenntnis
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und über alle anderen Arten von Kultus gestellt wird. Deshalb wirft sich auch Paulus
besonders auf diese Sache und rückt das Gesetz und die menschlichen Traditionen
beiseite. Er will zeigen, daß es sich bei der christlichen Gerechtigkeit um etwas ande-
res handelt als um Werke solcher Art: nämlich den Glauben, welcher glaubt, daß wir
um Christi willen in die Gnade aufgenommen werden. Aber diese Lehre des Paulus
ist fast ganz zu Boden gedrückt worden durch Traditionen, die die Meinung entstehen
ließen, man müsse durch Unterscheidung der Speisen und ähnliche kultische Hand-
lungen Gnade und Gerechtigkeit verdienen. Bei der Buße erwähnte man überhaupt
nicht den Glauben. Nur diese Werke, die Genugtuung bringen sollten, stellte man [den
Menschen] vor Augen. Darin, so meinte man, bestehe die ganze Buße.
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Erstens: Es wurde die eigentliche Lehre des Evangeliums verdunkelt, welche erklärt, daß die
Sünden umsonst um Christi willen vergeben werden. Diese Wohltat Christi verlagerte man auf
jene menschlichen Werke. Und vor allem aufgrund dieser Überzeugung wurden die Traditionen
vermehrt, weil man meinte, jene Werke würden Vergebung der Sünden verdienen, sie seien Ge-
nugtuungsleistungen und stellten die christliche Gerechtigkeit dar. Gerade aus diesem Grunde
ermahnt uns Paulus so oft und so streng, uns vor den Überlieferungen zu hüten, damit nicht
Christi Wohltat auf die Traditionen übertragen werde, die Ehre Christi verdunkelt, den Ge-
wissen die wahren und sicheren Tröstungen geraubt und am Ende der Glaube, das heißt das
Vertrauen auf Christi Barmherzigkeit, zugrunde gerichtet werde. Diese Gefahren wollte Paulus
verhüten. Denn das ist am allernötigsten, daß in der Kirche aufgerichtet ist die reine Lehre von
der Wohltat Christi, von der Glaubensgerechtigkeit, von der Tröstung der Gewissen.
[102] Zweitens haben diese Traditionen die Gebote Gottes verdunkelt, weil man
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sie
Gottes Geboten bei weitem vorzog.
aa
Man verstand das ganze Christentum als ein
Beachten bestimmter Feiertage, Riten, Fastentage und der Kleiderordnung. Diese
b
Vorschriften
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besaßen den höchst ehrenvollen Titel des geistlichen und vollkom-
menen Lebens. Zugleich fanden die dem Beruf gemäß zu erfüllenden Gebote Gottes
kein Lob: daß ein Familienvater den Nachwuchs erzog, eine Mutter Kinder gebar, ein
Fürst den Staat lenkte.
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Das hielt man für weltliche, unvollkommene und viel schlech-
tere Werke als jene gleißenden Vorschriften. Dieser Irrtum hat fromme Gewissen sehr
gequält. Es schmerzte sie, sich in einer unvollkommenen Lebensart zu befinden: im
Ehestand, in Regierungsaufgaben oder anderen Funktionen des bürgerlichen Lebens.
Sie bewunderten die Mönche und ähnliche Leute und meinten irrtümlich, deren Kult-
handlungen fänden bei Gott größeres Gefallen.
Av
[Zu „Zweitens“ und „Drittens“ übernimmt
Av
Teile des Textes von
A
. Änderungen:]
a…aa
diese Anordnungen für die geistliche und christliche Gerechtigkeit hielt. Man zog die
menschlichen Überlieferungen auch den Geboten Gottes vor.
b…bb
dürftigen Weltelemente [= griechischer Ausdruck nach Gal 4, 9].
Drittens brachten solche Überlieferungen große Gefahren für die Gewissen. Denn es
war unmöglich, alle Traditionen zu befolgen, und doch meinten die Menschen, diese
Regeln seien notwendige Gottesdienste.
cc
Gerson
108
schreibt, viele seien in Verzweif-
lung gefallen, einige hätten sogar Selbstmord verübt, weil sie gemerkt hatten, [103]
1...,45,46,47,48,49,50,51,52,53,54 56,57,58,59,60,61,62,63,64,65,...549
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