Die Bekenntnisschriften - page 54

Das Augsburger Bekenntnis
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26. Von der Unterscheidung der Speisen
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Bindung des Heils an menschliche Überlieferungen widerspricht dem Evangelium,
den Geboten Gottes, fesselt die Gewissen] Es war eine allgemeine Überzeugung nicht
nur des Volkes, sondern auch der in den Kirchen Lehrenden, daß das Unterscheiden
von Speisen und ähnliche menschliche Überlieferungen Handlungen seien, die beim
Verdienen von Gnade helfen und zur Genugtuung für Sünden dienen. Und daß alle
Welt so dachte, geht daraus hervor, daß man ständig neue Zeremonien, neue Orden,
[101] neue Feiertage, neue Fasten einrichtete. Die Lehrer in den Kirchen forderten
diese Handlungen als einen Kult, der zum Verdienen von Gnade notwendig sei, und
versetzten die Gewissen mächtig in Schrecken, wenn sie etwas davon versäumen
würden. Aus dieser Auffassung von den Traditionen ergab sich viel Unzuträgliches in
der Kirche.
Av
[Weitgehende Neufassung des Artikels; dazwischen auch gleicher Wortlaut]
[CR 386]
Von der Unterscheidung der Speisen und ähnlichen päpstlichen Überlieferungen
[Bindung des Heils an menschliche Überlieferungen widerspricht dem Evangelium, den Geboten
Gottes, fesselt die Gewissen] In diesem leiblichen Leben muß es verpflichtende Überlieferungen
geben, das heißt, Bestimmungen über Orte und Zeiten [des Gottesdienstes], damit die
Angelegenheiten der Kirche geregelt geschehen, wie Paulus gebietet: „Lasset alles ordentlich
zugehen und wie es sich gebührt“ (1. Kor 14, 40). Deshalb hat die Kirche auch Traditionen, das
heißt, sie setzt fest, zu welchen Zeiten und wo das Volk zusammenkommen soll. Zu diesem
öffentlichen Zweck darf man Überlieferungen begründen. Jedoch haben Menschen, die in der
christlichen Lehre unerfahren sind, nicht dies im Sinn; vielmehr hängen sie den Überlieferungen
abergläubische Vorstellungen an und vermehren sie ohne Maß durch ihren Aberglauben. Daß
das in der Kirche geschehen sei, haben nicht erst neuere Theologen wie Gerson
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und einige an-
dere beklagt, sondern auch schon Augustin.
Darum muß man das Volk darüber belehren, was von den Traditionen, die durch menschliche
Autorität in der Kirche begründet wurden, zu halten ist. Denn es war sehr wohl begründet, daß
Christus und Paulus so oft von den Überlieferungen redeten und die Kirche ermahnten,
verständig über die Traditionen zu urteilen.
Es war aber eine allgemeine Überzeugung nicht nur des Volkes, sondern auch der in den
Kirchen Lehrenden, daß das Unterscheiden von Speisen und ähnliche Werke, über die kirchliche
[CR 387] Traditionen Vorschriften machen, Gottesdienste seien, die Sündenvergebung ver-
dienen sollen. Ebenso, daß solche Kulte die christliche Gerechtigkeit darstellten und notwendig
seien, so wie im Alten Testament die levitischen Zeremonien notwendig waren; daß sie auch
nicht ohne Sünde unterlassen werden könnten, freilich abgesehen vom Fall des Ärgernisses.
Diese Überzeugungen haben viel Unzuträgliches mit sich gebracht.
Erstens wurde die Lehre von der Gnade und der Glaubensgerechtigkeit verdunkelt,
die der wichtigste Teil des Evangeliums ist. Sie soll so hoch wie möglich stehen und
emporragen in der Kirche, damit das Verdienst Christi gut erkannt wird und damit der
Glaube, der die Vergebung der Sünden um Christi willen glaubt, weit über die Werke
107 Die Überschrift von
Av
(s. u.) entspricht bereits dem Inhalt von
A
: Der Artikel behandelt das Gesamtproblem der
kirchlichen Gebräuche.
108 Johannes Gerson (1363–1429), Theologe in Paris, Befürworter einer Kirchenreform.
1...,44,45,46,47,48,49,50,51,52,53 55,56,57,58,59,60,61,62,63,64,...549
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