Die Apologie des Augsburger Bekenntnisses
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größte und erste Gesetz nicht rechtfertigt, [CR 486] so auch nicht die höchste Tugend
des Gesetzes
, denn es gibt kein Gesetz, das uns mehr anklagt und uns mehr dazu
bringt, daß unser Gewissen dem Richtspruch Gottes zürnt, als dieses höchste Gesetz:
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen lieben“ (5. Mose 6, 5). Denn
wer von den Heiligen, abgesehen von Christus, hat sich zu rühmen gewagt, diesem
Gesetz Genüge getan zu haben? Die Gesetzestugend rechtfertigt also nicht. Statt
dessen rechtfertigt jene Tugend, die die um Christi willen geschenkte Versöhnung
empfängt. Diese Tugend ist der Glaube. Er rechtfertigt nicht seiner Würdigkeit we-
gen, sondern nur weil er die Barmherzigkeit empfängt, durch welche wir um Christi
willen für gerecht erklärt werden. Denn wir sind gerecht (d. h. angenommen vor
Gott) nicht wegen unserer Vollkommenheit, sondern durch die Barmherzigkeit um
Christi willen, wenn wir diese ergreifen und dem Zorn Gottes entgegenhalten.
Aber die Gegner schreiben der Liebe die Gerechtigkeit deshalb zu, weil sie das Ge-
setz lehren und meinen, Gerechtigkeit sei der Gehorsam gegenüber dem Gesetz. Denn
die menschliche Vernunft schaut nur auf das Gesetz und kennt keine andere
Gerechtigkeit als den Gesetzesgehorsam. Und die Scholastiker, findige Leute, haben,
als sie eine Methode suchten, sich das Gesetz vor Augen gestellt; ebenso stellen sich
die Philosophen in der Ethik auch die Sittengebote vor. Aber Paulus widerspricht und
lehrt, daß Gerechtigkeit etwas anderes ist, nämlich der Gehorsam gegenüber der
Verheißung der um Christi willen geschenkten Versöhnung, d. h.: die um Christi
willen geschenkte Barmherzigkeit anzunehmen. Denn so sind wir bei Gott angenom-
men, so bekommen die Gewissen Frieden, wenn wir glauben, daß Gott uns um Chri-
sti willen gnädig ist. Deshalb müssen die frommen Gemüter vom Gesetz weg zur
Verheißung gerufen werden, wie wir schon oft gesagt haben, und etwas später wollen
wir das ausführlicher darlegen, wenn wir die scholastischen Argumente zum Wort
„Gerechtigkeit“ behandeln werden.
[Zu Kol 3, 14: Liebe als „Band der Vollkommenheit“]
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[CR 487…] [204] Die Gegner haben in ihrer Konfutation
auch folgenden Spruch
aus dem Kolosserbrief gegen uns ins Feld geführt: „Die Liebe ist ein Band der Voll-
kommenheit“ (Kol 3, 14). Daraus folgern sie, daß die Liebe rechtfertigt, weil sie voll-
kommene Menschen macht. Obwohl hier hinsichtlich des Begriffes „Vollkommen-
heit“ auf mancherlei Weise zu antworten wäre, wollen wir doch [lieber] einfach den
Satz des Paulus in Erinnerung bringen. Es ist sicher, daß Paulus von der Nächstenlie-
be spricht. Doch darf man nicht glauben, er habe die Rechtfertigung oder die Voll-
kommenheit vor Gott damit eher den Werken der zweiten als der ersten Tafel zuge-
rechnet.
Wenn die Liebe deshalb eine vollkommene Erfüllung des Gesetzes wäre und
dem Gesetz Genüge täte,
so brauchte man folglich den Versöhner Christus nicht.
Doch lehrt Paulus deshalb, daß wir um Christi willen, nicht um der Gesetzeserfül-
lung willen angenehm sind, weil die Erfüllung des Gesetzes nicht vollkommen ist.
51 Die während des Reichstages verlesene Entgegnung auf die Augsburgische Konfession.