Die Apologie des Augsburger Bekenntnisses
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Natur aus ein, daß solche Werke die Menschen rechtfertigen, daß sie Gott versöhnen
usw. So dachte [auch] das Volk bei den Israeliten; und in dieser Meinung vermehrten
sie solche Zeremonien, so wie sie bei uns in den Klöstern zugenommen haben. So
urteilt die menschliche Vernunft auch über die Übungen des Leibes, [d. h.] über das
Fasten, zu dessen Zweck, das Fleisch zu zähmen, die Vernunft noch hinzu erdichtet,
das Fasten sei eine Gottesverehrung, die rechtfertigt. Wie Thomas schreibt: „Das
Fasten dient zur Tilgung und Verhinderung von Schuld.“
Dies sind die Worte des
Thomas. [302] So täuscht die Menschen der Schein von Weisheit und Gerechtigkeit
in diesen Werken. Und dazu kommen Beispiele von Heiligen: Wenn die Menschen
sie nachzuahmen versuchen, ahmen sie zumeist nur ihre äußeren Übungen nach, nicht
aber ihren Glauben.
Nachdem dieser Schein von Weisheit und Gerechtigkeit die Menschen getäuscht
hat, folgen unzählige Mißlichkeiten nach: Das Evangelium von der Gerechtigkeit des
Christusglaubens wird verdunkelt, und ein eitles Vertrauen auf solche Werke stellt
sich ein. Dann werden Gottes Gebote verdunkelt; diese Werke maßen sich den Titel
eines
vollkommenen
und geistlichen Lebens an und werden den Werken der Gebote
Gottes, wie z. B. den Werken der je eigenen Berufung, dem Dienst im Staat und in
der Haushaltung, dem ehelichen Leben, der Erziehung von Kindern bei weitem vor-
gezogen. Diese werden im Unterschied zu jenen Zeremonien für weltlich gehalten, so
daß sie von vielen nur mit einem Gewissenszweifel ausgeübt werden. Denn es ist
bekannt, daß viele nach Verlassen des Staatsdienstes, des Ehestandes, jene Satzungen
als vermeintlich besser und heiliger auf sich genommen haben.
Damit noch nicht genug. Wo der Wahn, solche Kulte seien zur Rechtfertigung nö-
tig, die Herzen ergriffen hat, da werden die Gewissen elend gequält, weil sie nicht alle
Vorschriften genau einhalten können. Denn wer überhaupt hat sie alle aufzählen
können? Es gibt zahllose Bücher, ja ganze Bibliotheken, die keine Silbe über Chri-
stus, über den Glauben an Christus, über die guten Werke der je eigenen Berufung
enthalten, sondern nur Überlieferungen [CR 578] und deren Auslegungen zusammen-
tragen, durch die sie teils verschärft, teils aber auch ermäßigt werden. Wie plagt sich
nicht Gerson
, der treffliche Mann, wenn er Rangstufen und Reichweiten der Gebo-
te sucht. Und doch findet er keine bestimmte Stufe, auf der er der gütigen Nachsicht
Raum geben kann; er beklagt dabei schwer die Gefahren für fromme Gewissen, die
diese strenge Auslegung der Überlieferungen mit sich bringt.
[Das klare Schriftzeugnis gegen die menschlichen Satzungen]
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[303] Wir also schützen uns durch Gottes Wort gegen jenen Schein von Weisheit und
Gerechtigkeit in den menschlichen Riten, der die Menschen täuscht. Und erstens
sollen wir wissen, daß sie weder Sündenvergebung noch Rechtfertigung vor Gott
verdienen und nicht zur Rechtfertigung notwendig sind. Einige Belege haben wir
134 Thomas von Aquin, Summe der Theologie, Teil 2, 2, Frage 147, Art. 3.
135 Johannes Gerson († 1429), Vom geistlichen Leben der Seele, Lektion 2.