Die Bekenntnisschriften - page 399

Der Große Katechismus
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erhalten haben und ganz frei gesprochen sind, so steht es mit dem Leben doch so, daß
einer heute steht und morgen davon abfällt. Darum müssen wir abermals bitten, auch
wenn wir rechtschaffen sind und mit gutem Gewissen Gott gegenüberstehen, daß er
uns nicht zurückfallen und vor der Anfechtung oder Versuchung zurückweichen läßt.
Die Versuchung aber oder (wie es unsere Sachsen von Alters her nennen) „Bekö-
rung“
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ist von dreierlei Art: des Fleisches, der Welt und des Teufels.
Denn im Fleisch wohnen wir und tragen den alten Adam am Hals, der regt sich und
reizt uns täglich zu Unzucht, Faulheit, Fressen und Saufen, Geiz und Täuschung, um
den Nächsten zu betrügen und zu übervorteilen, und, alles in allem, zu allerlei bösen
Begierden, die uns von Natur aus ankleben und dazu erregt werden durch anderer
Leute Gesellschaft, Beispiel, Hören und Sehen, die oftmals auch ein unschuldiges
Herz verwunden und entzünden.
Danach kommt die Welt, die uns mit Worten und Werken beleidigt und uns zu Zorn
und Ungeduld treibt. Alles in allem ist da nichts außer Haß und Neid, Feindschaft, Ge-
walt und Unrecht, Untreue, Rächen, Fluchen, Schimpfen, üble Nachrede, Hochmut und
Stolz mit überflüssigem Schmuck, Ehre, Ruhm und Gewalt, weil niemand der Geringste
sein, sondern obenan sitzen und vor jedermann Ansehen haben will.
Dazu kommt nun der Teufel, hetzt und bläst überall hinein. Vor allem aber betreibt
er das, was das Gewissen und geistliche Dinge betrifft, so daß man sowohl Gottes
Wort als auch Werk in den Wind schlägt und verachtet, daß er uns von Glaube, Hoff-
nung und Liebe wegreißt und zu Unglauben, falscher Vermessenheit und Verstok-
kung oder andererseits zur Verzweiflung, Leugnung und Lästerung Gottes und ande-
ren unzähligen, schrecklichen Dingen bringt. Das sind nun die Stricke und Netze, ja
die rechten „feurigen Pfeile“ (Eph 6, 16), die nicht Fleisch und Blut, sondern der Teu-
fel aufs allergiftigste ins Herz schießt.
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Das sind gewiß große, schwere Gefahren und Anfechtungen, die ein jeder Christ be-
stehen muß. Schon durch jede für sich allein würden wir getrieben werden, alle Stun-
den zu rufen und zu bitten, solange wir in dem schändlichen Leben sind, in dem man
uns von allen Seiten zusetzt, jagt und treibt, damit Gott uns nicht matt und müde wer-
den und nicht wieder zurückfallen lasse in Sünde, Schande und Unglauben. Denn
sonst ist es unmöglich, auch nur die allergeringsten Anfechtungen zu überwinden.
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Das „nicht in Versuchung führen“ heißt nun, daß Gott uns Kraft und Stärke gibt, um
zu widerstehen, ohne daß die Anfechtung weggenommen oder aufgehoben wird.
Denn Versuchung und Reizung kann niemand umgehen, solange wir im Fleisch leben
und den Teufel um uns haben, und es wird nicht anders: Wir müssen Anfechtung
erleiden, ja darin stecken. Aber wir bitten darum, daß wir nicht hineinfallen und er-
saufen. Darum ist es ein ganz anderes Ding, Anfechtung zu fühlen, als darin einzu-
willigen oder ja dazu zu sagen. Fühlen müssen wir sie alle, wenn auch nicht alle auf
die gleiche Weise, sondern einige mehr und schwerer: so die Jugend vor allem vom
Fleisch, danach, was erwachsen und alt wird, von der Welt, die andern aber, die mit
87 Versuchung; das Wort „korunga“ oder „bikorunga“ begegnet schon in althochdeutschen Übersetzungen des
Vaterunsers.
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